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Leseprobe

Walter Weil

Die Burg der Tugenden

Band 1:


Die letzte Bastion


Als die für die Genueser bestimmten Gepäckstücke auf dem Hafengelände zusammengestellt und von arabischen Arbeitern auf mehrere Mulis verladen waren, wurde Rudolf beauftragt, den Zug zu überwachen. Auf dem Weg zum Genua-Quartier kamen sie an der Templerfestung vorbei und der Knappe bekam einen Eindruck, welch eine gewaltige Burg der Orden hier aufgerichtet hatte. Er sah voll Staunen, daß der Zugang von zwei imposanten Türmen flankiert war, deren Mauerdicke, wie er später erfuhr, mehr als fünf Ellen maß. Damit nicht genug, waren zur Seite dieser gemauerten Wächter zwei kleinere Türme angegliedert. Aber was an deren Spitze prangte, ließ des jungen Betrachters Mund offenstehen: Jeweils ein Löwe von der Größe eines Auerochsen. Beide Monumente glänzten wie mit Gold überzogen. Aber der neuen, ungewohnten Eindrücke waren so viele, daß diese die Begegnung mit den goldfarbenen Löwen rasch verdrängten. Rudolf gewahrte, daß mehr solch imposanter Bauten, alle aus großen Steinquadern errichtet, das Stadtbild in diesem Viertel zu bestimmten schienen. Manche glichen den Burgen in der Heimat, andere waren quadratisch oder rechteckig angelegt.

Sie schritten mit den Saumtieren zunächst eine Gasse entlang, die schräg vom Hafen wegführte, stießen schließlich auf eine halbkreisförmige Straße, deren anderes Ende verdeckt war von einem ausgedehnten und mit Türmen gesicherten Gebäude.

Der einheimische Maultierführer, neben dem Rudolf herschritt, deutete auf den Bau, als er sah, daß dieser seines Begleiters Aufmerksamkeit erregte, und sagte: "Das ist das Quartier der Venezianer."

"Du sprichst unsere Sprache?" fragte Rudolf überrascht. Er wußte nicht, daß die Sarazenen der Region sich im Laufe der Kreuzritterherrschaft eine Mischform aus Fränkisch und Morgenländisch angeeignet hatten.

"Ein wenig."

"Bist du der einzige hier, der mich versteht?"

"Viele von uns verstehen."

"Wie ist dein Name?"

"Man nennt mich Ibrahim."

Während sie weitergingen, kamen Rudolf die goldfarbenen Löwen wieder in den Sinn. Ob er diesen Ibrahim danach fragen sollte? Warum nicht, dachte er und wandte sich an den Araber: "Weißt du über dieses Viertel hier Bescheid?"

"Ein wenig", war die knappe Antwort.

"Dann kannst du mir vielleicht sagen, ob die beiden Löwen, die auf den Türmen des Eingangs zur Templerburg stehen, mit Goldfarbe angestrichen sind?"

"Angestrichen?"

"Ja, angemalt, mit Farbe!"

Rudolf hatte Glück. Das Wort "Farbe" kannte der gute Ibrahim. Er nickte freudig und sagte: "Farbe Gold! Franken sagen, Löwen reines Gold."

Da die halbkreisförmige Straße wesentlich belebter war, als das Hafenviertel, das sie durchquert hatten, mußten sie sich mit ihren Mulis um den Weg kümmern, und Rudolf kam nicht mehr dazu, das Thema noch einmal aufzugreifen. Sie waren jetzt auf einer Straße unterwegs, in der eine Anzahl Händler ihre Waren ausgelegt hatte. Hier herrschte ein regelrechtes Volksgetümmel. Da feilschte ein Syrer mit Turban als Kopfbedeckung und Wollgürtel um den Leib mit einem Marktmann, dort schritt eine Frau, Stirn und Kinn verhüllt, und neben ihr ein nubischer Sklave, der ihren Einkauf schleppte. Dazwischen drängten sich Johanniter im schwarzen Mantel und weißgewandete Templer durch das Volk. Hier war also das orientalische Leben, von dem daheim die Sänger kündeten, dachte Rudolf, und er war mittendrin. Ah, da würden die Leute an seinen Lippen hängen, wenn er, zurück in der Heimat, ihnen am Kaminfeuer von seinen Erlebnissen erzählte.

Aber bevor er ins Schwärmen geriet, wurde er abgelenkt, denn das enorme Getriebe zwang ihm andere Eindrücke auf. Ganz besonders, als ihm beim Vorübergehen eine weibliche, schlanke und mittelgroße Gestalt ins Auge stach, die vor einem der zahlreichen Verkaufsstände die ausgelegten Waren betrachtete. Das Gesicht unverhüllt, mit einem fast unmerklichen Ton von hellstem Braun und von fast überirdischer Schönheit, das üppige dunkle Haar nur teilweise verdeckt durch eine kleine weiße Haube mit angestecktem, in den Nacken fallenden Schleier, gekleidet in arabische Gewänder aus reiner goldfarbener Seide, an den kleinen, unter dem Gewand hervorlugenden Füßen Sandaletten aus rotbraunem Antilopenleder, mutete ihn diese Dame wie eine Göttin aus einer anderen Welt an. Sie hatte den sie anstarrenden Jüngling jetzt bemerkt und zog ihren Schleier vors Gesicht. Gleichzeitig flammte aus ihren überraschenderweise blauen Augen ein Blick, der ihn blendend wie ein Sonnenstrahl traf.

"Das ist Mandala", sagte der Mulitreiber. "Schön wie eine Houri - man nennt sie Engel der Siechen."

"Du kennst die Frau?"

"Nur was alle wissen. Sie macht Sieche gesund."

Sie waren inzwischen weitergegangen, und Rudolf hatte die Dame, die ihn so sehr fesselte, aus den Augen verloren.

"Wie macht sie die Menschen gesund?"

"Mit ihren Händen."

"Mit den Händen...?"

"Ja."

"Dann ist sie wohl eine Zauberin?"

Ibrahim sah den Knappen verständnislos an.

"Ich verstehe nicht."

"Eine Zauberin ist eine Frau mit geheimnisvollen Kräften. Unsere heilige Kirche sieht das nicht gern."

"Davon weiß ich nichts. Wer von euch Nazarenern hat soviel Gewalt, daß er Frauen, die heilen, verdammen darf?"

"Die Bischöfe sind mächtig, sie erklären solches Tun als Teufelszeug."

"Verzeiht, Herr, ich lebe seit meiner Geburt hier und habe viel gelernt über die Franken, die kamen und gingen. Mir ist dabei aufgefallen, daß die Kirche der Nazarener sich mehr mit dem Teufel beschäftigt, als mit Gott."

"Hund von einem Ungläubigen! Wie kannst du es wagen, unsere heilige Kirche zu beleidigen?"

Ibrahim, der etwa doppelt so alt wie Rudolf war, blieb äußerlich ruhig, hatte aber die Hand am Dolch, den er am Gürtel trug, als er gelassen entgegnete: "Wer mich einen Hund nennt, muß sich vorsehen, ob er nun ein Muslim ist oder ein Nazarener!"

Dem Schildknappen wurde bewußt, daß seine Beleidigung wohl nicht ungerächt bliebe, wenn er sich nicht entschuldigte. Er sagte sich, daß es unklug sei, im fremden Land sich gleich einen Todfeind zu schaffen. So rang er sich zu einer Entschuldigung durch: "Verzeih, guter Mann, ich nehme den Schimpf zurück. Ich wollte dich nicht kränken, es ist mir in der Erregung herausgerutscht."

Der Sarazene nahm die Hand vom Dolch.

"Ihr seid noch sehr jung und müßt Erfahrungen sammeln, deshalb rate ich Euch, Eure Empfindungen und Worte zu zügeln, wenn Ihr mit einem Mann unseres Volkes sprecht."